Grau-blau geringelt …

Im Sommer 2014 las ich im Schlosspark der Akademie Tutzing am Starnberger See das Buch „Der Junge und die Taube“ von Meir Shalev, im Original „Jona we-Na’ar“ und erfuhr dabei vieles über „Brieftauben“, „homing pigeons“.

„Wende den Blick nicht von ihr ab, denn sie wird dem Auge sehr schnell entschwinden, schneller als du denkst.“
Das Mädchen sagte: „Sie wird in dem Moment verschwinden, in dem der Wartende sie sieht.“
Doktor Laufer sagte: „Das ist unmöglich. Das kann nicht sein.“
Das Mädchen sagte: „Aber so wird es sein.“ Und Doktor Laufer sah ihren Gesichtsausdruck und spürte, daß sie entgegen aller Logik recht hatte.

Und ich lernte, beim Heimkommen mein Zuhause zu begrüßen:

Ich steckte den schlüssel ein und drehte. Du drücktest die Klinke, machtest die Tür auf und sagtest „Schalom, Haus…“ ins kühle Halbdämmern. „Sagt ihr auch Schalom, Haus“, wies sie uns an, „und hört gut hin, denn es grüßt euch zurück.“ […]
Und das Haus freute sich auch auf uns, atmete auf und antwortete, wie du es versprochen hattest. 

Taube 01

Noch während ich das Buch las, entdeckte ich im Schlosspark die Bronzefigur eines Jungen, der eine Taube „auflässt“ – für mich ein passenderes Bild als „l’enfant au pigeon“ von Pablo Picasso, das auf meinem Exemplar von „Der Junge mit der Taube“ abgebildet war.

Taube-02

Zurück aus dem Urlaub musste der Mirabellenbaum im Garten gefällt werden, der unter der Last seiner Früchte zusammengebrochen war. Die frei gewordene Stelle im Garten (oder was war es sonst?) lockte  eine Brieftaube an: Zehn  Tage lang besuchte sie den Garten, marschierte darin herum und pickte sich etwas zu essen, ohne sich von mir stören zu lassen. Bis auf einen Meter ließ sie mich an sich heran – so nahe, dass ich an einem ihrer Ringe eine Telefonnummer ablesen konnte: 07121. Die Nummer kannte ich, die hatten die Eltern früher als Vorwahl. Ich freute mich über den Besuch der Taube aus Schwaben! Schließlich konnte ich die ganze Telefonnummer ablesen und sie wählen: „Haben Sie Brieftauben?“, „Ja, mein Mann …“.

Taube-04

Ich erfuhr, dass zwei Wochen zuvor Tauben aus Reutlingen in der Nähe von Landshut aufgelassen worden waren. Dann war ein Unwetter aufgekommen, das die Taube am Heimflug gehindert hatte. Und ich bekam Anweisungen: Ich solle der Taube Wasser und Körner geben, denn wenn sie wieder stark sei, schaffe sie es bis nach Hause, vor allem, da demnächst wieder in Bayern ein Schwarm Tauben aufgelassen würde:

„Die Taube ist schlau, wenn sie die anderen Tauben sieht, wird sie mitfliegen!“

Es gelang mir, die Taube einzufangen und zu einem Freisinger Taubenzüchtern zu bringen. Ihr  Besitzer holte sie einige Zeit später dort ab und brachte mir bei seiner Fahrt hierher Blumen.

Das Gefühl des zierlichen Taubenkörpers in meinen Händen ist für mich unvergesslich.

Eine Freundin – mit dem Blick der Künstlerin – machte mich aufmerksam, als sie die Fotos von mir und der Taube sah:

“Ihr beide passt  gut zusammen: beide grau-blau geringelt.
Kein Wunder, dass die Taube gerade bei dir gelandet ist!”

Taube-08-c

(Zitate aus: Meir Shalev, „Der Junge und die Taube“, Diogenes Verlag AG Zürich, 2007 (S. 50f und S. 127f); Umschlagbild „L’enfant au pigeon“ von Pablo Picasso.
Bronzefigur „Jüngling mit Taube – Franziskus von Assisi“ von Gregor Kruk, 1949.)

Taube-03

Ein Gedanke zu „Grau-blau geringelt …

  1. Marie-Lu

    Liebe Mirjam, beim Wiederlesen erinnere ich mich natürlich an dein Erlebnis mit der Taube, vor allem an das Bild von den beiden Geringelten. Ich hätte aber nicht mehr gewusst, dass ein Buch von Meir Shalev der Auslöser für deinen Blogbeitrag war. Ich habe von ihm noch kein Buch gelesen. Nun ist er gestorben. Seine Bücher überleben ihn, vielleicht lerne ich noch eines kennen. Liebe Grüße Marie-Lu

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