Ich habe mir ein Reisebuch gekauft, in dieser Zeit, in der reisen unmöglich erscheint. Und dann ausgerechnet ein Buch über Gotland, gut 2000 km von meinem Zughause?! Das Buch lag so verlockend im Buchladen – unerwartet, ungeplant, ohne vorherige Empfehlung: „Mein Gotland – Erzählungen von Wind, Zeit und Einsamkeit“ von Anne von Canal, im Hamburger mareverlag gerade erschienen. Natürlich hat mich der Titel gelockt, aber auch die Aufmachung: klein und angenehm in der Hand liegend, auf dem Umschlag schön gezeichnete Versteinerungen und mit einem Lesebändchen versehen.
An einem kalten Abend im November beginne ich zu lesen, erwartungsvoll und doch schnell irritiert beim Lesen der ersten Seiten. Anne von Canals Gotland ist eine Winterinsel – mein Gotland, unser Gotland dagegen eine Sommerinsel. Die Vermischung zwischen Anne von Canals Gegenwart und Vergangenheit, zwischen Erlebtem und Erdachtem verwirrt zunächst, bis ich mich einlese und die Wechsel erkennen: hier erzählt die Autorin von Selbst-Erlebtem auf Gotland, dort schildert sie ein früheres Erlebnis, hier wiederum lauscht man einem Gespräch, wie es in der Vorstellung der Autorin stattgefunden hat.
„Nach Gotland reise ich mit leichtem Gepäck. […]
Anne von Canal, Mein Gotland, 2020, S. 32
Ich werde eine Insel.
Ein Grenzland zwischen Fiktion und Wirklichkeit, wie so viele Inseln vor mir.“
In Kapitel 3, ab S. 33, wird aus der Winterinsel des Buches die mir bekannte Sommerinsel vom August 2015: Bei der Schilderung der Fahrt mit der Autofähre auf die kleinere Insel Fårö erinnere ich mich an unsere Überfahrt, ich sehe unsere Ankunft auf der Insel und fahre mit Anne von Canal über die Insel: „einmal so herum und einmal entgegengesetzt“.
Beim Lesen der Beschreibung von „Kutens Bensin“, wo Anne von Canal an einem kalten Winterabend ankommt, sehe ich den Hof mit dem Autowrack vor mir, hell in kräftigen Farben und sommerwarm. Auf einem handgemalten Schild lese ich: „Laterna Magica – Bokhandel“ und „Prix Nobel de Litteratur Bob Dylan“ – Vorhersage der im Herbst 2016 erfolgten Preisverleihung an Bob Dylan.
„Dies ist ein guter Ort, um verloren zu sein. Vielleicht der beste.“
Anne von Canal, Mein Gotland, 2020, S. 45
Das Buch mit seinen Geschichten und den Anmerkungen und Literaturangaben auf seinen letzten Seiten enthält viele weitere Entdeckungen und Begegnungen, u. a. mit Regissören Ingmar Bergman, dem Jungen Mats in Norrgats Konditorei, den Internieretn in Lager Lingen, der Liebe in Fridhem, der Weinbau in Hablingbo, … Am stärksten hat mich aber das letzte Kapitel berührt.
In Kapitel 10, auf den letzten zehn Seiten des Buches macht Anne von Canal dem Lesenden bzw. dem Vorlesenden und dem Zuhörenden ein besonderes Geschenk: Sie berichtet, wie aus der Spinnerei eines Einzelnen, des Ethnologen und Musikers Owe Ronström, ein großes, ja sogar: ein ziemlich großes Konzert wurde: „Klockrent – en Mycket Stor Konsert“, „Glockenrein – ein sehr großes Konzert“, eine Komposition für 200 Glocken, live und direkt übertragen aus den Kirchen Gotlands im Juni 2013.
Anne von Canal beschreibt den Ablauf dieses Konzerts, bei dem 200 Glocken der über die ganze Insel verstreuten Kirchen Gotlands nach einem exakt ausgetüftelten Plan zu schlagen anfangen und der Klang dieser Glocken an das schwedische Radio per Handy übertragen wird und von dort gesendet wird. Nein, die Glocken schlagen nicht alle gleichzeitig zusammen, sondern nach einem genauen Plan, wann welche Glocke an der Reihe ist und mit anderen zusammenklingen soll, bis schließlich zum Konzertabschluss im Tutti die Glocken Gotlands ein gewaltiges Instrument bilden und zusammen zu hören sind.
Die Glocke von Hörnse macht den Anfang […] ein Weckruf. Sechs einsame Schläge, klar und sauber. ….
Anne von Canal, Mein Gotland, 2020, S. 129-131
Nach zwanzig Sekunden übernimmt kaum acht Kilometer nördlich das Team in der bizarr geformten Kirche von Källungen […] Läuten, sende. Es klappt.
Und jetzt betritt Kräklingbos Glocke zögernd die Bühne und stimmt, ein wenig eingeschüchtert von der schieren Größe, vorsichtig ihren Ton an. […] Dann beginnt die Glocke zu erzählen, […] von einem wie Hans-Erik zum Beispiel, der […] gerade das Handy hält und vor der Kirche steht, in der er getauft, konfirmiert und mit rosa Blume im Knopfloch verheiratet wurde, der den Ton seiner Glocke aufnimmt, die vermutlich auch schon seine Eltern und Großeltern durchs Leben begleitet hat; […]
Zum Klang der Glocke von Ganthem zitiert Anne von Canal die bekannte Meditation XVII, „No Man Is an Island“, von John Donne (1572-1631):
„No man is an island, entire of itself; … ;
Anne von Canal, Mein Gotland, 2020, S. 134/135
any man’s death diminishes me, because I am involved in mankind,
and therefore never send to know for whom the bell tolls; it tolls for thee.”
Der Glockenklang verbindet uns, auf Gotland im Juni 2013 und im Sommer 2015, aber auch heute: „it tolls for thee“, bei Taufe, Trauung und Beerdigung, er begleitet uns am Morgen, am Mittag und am Abend, „wenn zur Ruh die Glocken läuten“, am Werktag und am Feiertag, Zuhause und auf Reisen, in frohen und in traurigen Stunden. Das Gefühl des Miteinander-Verbundenseins trotz Abstandhaltens ohne direkten Kontakt tröstet und erhebt mich.
Wer jetzt neugierig auf den Text über das sehr große Konzert geworden ist, sollte sich das Buch besorgen, es lesen und im Anschluss daran das Konzert auf „Klockrent“ oder auf sverigesradio anhören.
Karte von Gotlands 100 Kirchen
Gothems bidrag till „Klockrent – En Stor Konsert“. Daniel Lindström är klockare – der Beitrag der Kirche von Gothem.
Meditation XVII, „No Man Is an Island“, von John Donne
Angaben zum Buch:
Anne von Canal: Mein Gotland – Erzählungen von Wind, Zeit und Einsamkeit,
gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 144 Seiten,
ISBN: 978-3-86648-623-2
mareverlag, Hamburg, 2020 (https://www.mare.de/)