Fragen zur Chemie, mit Kaffeeglück und Bleistift

Wieder einmal war ich mittels Lesen auf einer Reise: durch Raum und Zeit, in die Wissenschaft und Kulinarik, verbunden mit verschiedenen Begegnungen. Konkret ging die Reise nach Kalifornien, in die 50er- und 60er-Jahre, in die Chemie, zu Freundinnen aus Studium, Beruf und Tanz, und schließlich zum Kaffeetrinken in die Küche. Motor der Reise war der gerade erschienene und hochgelobte Roman von Bonnie Garmus: „Eine Frage der Chemie“ („Lessons in Chemistry“).

Ich muss sie nicht selbst formulieren, die Lobesreden auf diesen Roman: Er ist ein „hellsichtiger Gesellschaftsroman“ (Deutschlandfunk Kultur am 22.4.2022), ein „rührender Roman über eine starke Frau“ (NDR Kultur am 5.4.2022), ein „großer, kluger literarischer Spaß – und ein anrührenden Familienroman“ (Denis Scheck am 22.05.2022). Ich beschreibe hier lieber meine eigenen Erfahrungen mit dem Buch, das Besondere, das ich mit diesem Buch erlebt und entdeckt habe.

Ich habe im Roman ein Rätsel gefunden, das ich lösen wollte und das mich mit verschiedenen Menschen in Kontakt gebracht hat. Das Rätsel? Im Roman mit seinen gut 460 Seiten wird an einer Stelle eine chemische Struktur gezeigt, die sich allein schon optisch vom Text abhebt. Die Buchstaben der Formel sind in der deutschen Ausgabe kaum lesbar, doch mit dem Smartphone konnte ich sie fotografieren, vergrößern und betrachten.

Da ich annahm, dass das auffallende Gebilde an seiner besonderen Stelle, einem Grabstein, eine besondere Botschaft enthalten müsse, wollte ich wissen, was genau hier dargestellt ist. Bei meinem Versuch, das zur Darstellung im Buch passende Molekül zu finden, entdeckte ich im Internet bei der Gesellschaft Deutscher Chemiker e.V. die Jubiläumsaktion „Mein Lieblingsmolekül“ mit Bildern von Molekülmodellen, die ich – je länger ich sie ansah – als schöne Gebilde wahrnahm. In der Liste der Lieblingsmoleküle wurde auch Koffein genannt. Auf das Stichwort „Koffein“ hin las ich erneut die Szene, wie Elizabeth Zott in ihrer Laborküche Kaffee, C8H10N4O2, aufbrüht und damit die Nachbarin Harriet – für diese unerwartet – beglückt: 

„… sobald sie den ersten Schluck gekostet hatte, sagte sie nichts mehr. So einen Kaffee hatte sie noch nie getrunken. Er war himmlisch. Sie hätte ihn den ganzen Tag trinken können.“

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie. Piper Verlag 2022, 2. Aufl., S. 176/177.

Damit hatte ich bei meiner Suche nach der Lösung des Rätsels ein Zwischenergebnis:

Die Kaffeeszene in Zotts Laborküche ist mein Glücksmoment der „Lessons in Chemistry“. Kein Instant-Kaffee, sondern ein himmlischer Genuss nach konzentrierter Zubereitung in der Laborküche, verbunden mit dem Wissen: Kochen ist Chemie.

Kaffee mit Buch – auch in der Küche ohne Laborausstattung ein Glücksmoment

Leider war mit dem Zwischenergebnis die Frage nach der Bedeutung der – im Buch nicht infrage gestellten – Zott’schen Formel noch nicht gelöst.

„Elizabeth hatte ((…)) eine chemische Reaktion ausgewählt, die glücklich machte. Niemand sonst erkannte das, aber nach allem, was sie durchgemacht hatte, stellte es auch niemand infrage.“

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie. Piper Verlag 2022, 2. Aufl., S. 157.

Und so ging die Suche weiter. Über das Internet nahm ich Kontakt zur Autorin auf und stellte ihr meine Frage.

Was stellt die Formel aus Elizabeth Zotts „Lessons in Chemistry“ dar?

Tatsächlich antwortete Bonnie Garmus mir, und ich erfuhr von ihr: Das Gebilde stelle Serotonin dar, in einer Schreibweise aus den 50er-Jahren. Da war sie nun, eine Antwort, doch diese führte zu weiteren Fragen … Die heute (und auch schon 1955) bekannte Struktur des „Glücksmoleküls“ Serotonin sieht sehr einfach aus, nicht so kompliziert wie die im Buch abgebildete, die Elizabeth Zott 1955 auf einen Grabstein schreiben ließ.

Formelvergleich mit einfachem Glücksmolekül Serotonin

Da die Formel für Serotonin und die im Buch dargestellte Formel – selbst für mich als Nicht-Chemikerin – komplett unterschiedlich aussehen, befragte ich Bekannte mit Chemiehintergrund und bekam ausführliche Antworten der befreundeten Chemielehrerin und einer Lektoratskollegin, einer promovierten Chemie-Wissenschaftslektorin. Diese ergaben, dass es sich bei der rätselhaften Formel nicht um Serotonin handeln kann, auch nicht in der Schreibweise von 1955.

Bei der im Buch dargestellten Formel handelt es sich um einen Eiweißstoff, der aus verschiedenen Aminosäuren zusammengesetzt ist.
In menschlichen und tierischen Körpern wird Serotonin aus der Aminosäure Tryptophan mit Hilfe von Enzymen synthetisiert. Zwischenprodukt ist die nicht-proteinogene Aminosäure 5-Hydroxytryptophan. Weder Tryptophan noch 5-Hydroxytryptophan kommen in der „Formel“ vor.
Die Struktur von Serotonin war schon 1949 bekannt; die Synthese war ca. 1951 bekannt. Auch wenn sich aktuelle Forschungsergebnisse damals an kleineren US-Unis nur langsam verbreitet haben sollten, müsste der Stand der Forschung (Struktur von Serotonin) in der Zeit, in der das Buch „spielt“, bekannt gewesen sein.
Die „Formel“ deutet eher auch die chemische Evolution (Abiogenese) hin (MH: im Roman das Forschungsgebiet von Elizabeth Zott).

(Antworten per Mail von MFR und BF, 1.6.2022 und 3.6.2022; gekürzte Zusammenfassung)

Endergebnis meiner Suche:

Zwar genieße ich den Kaffee, die Sprache und den spannenden Plot der „Frage der Chemie“, meine Frage zur Chemie bleibt jedoch unbeantwortet.

Doch mein Beitrag geht über die Formelsuche hinaus …

Mit dem Endergebnis auf meine spitzfindige Frage könnte der Beitrag hier enden – kann er aber noch nicht. Wenn der Roman, wie von Denis Scheck, als „anrührender Familienroman“ oder auch als „feministischer Unterhaltungsroman“ bezeichnet wird, dann verniedlichen diese Bezeichnungen m. E. wichtige Aussagen des Buches. Ähnliche Verniedlichungen erfährt Elizabeth Zott, wenn sie von ihrem Chef, Dr. Donatti, als „Leckere Lizzy“ bezeichnet und ihr damit die Ernsthaftigkeit als Wissenschaftlerin abgesprochen wird.

Nein, Elizabeth Zott hat mehr zu bieten als Unterhaltung und Rührung, ihre Botschaft lautet:

„Kochen ist Chemie. Und Chemie ist Leben. Ihre Fähigkeit, alles zu ändern – Sie selbst eingeschlossen – beginnt hier ((..)) Furchtlosigkeit in der Küche wird zu Furchtlosigkeit im Leben.“

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie. Piper Verlag 2022, 2. Aufl., S. 250/251.

Der Roman ist ein Aufruf zu Ernsthaftigkeit, Selbstachtung, Mut und Veränderung. Er fordert dazu auf, Risiken einzugehen, sich mit Frauen mit ähnlichen Erfahrungen zu verbünden, z. B. mit einer Frau wie Miss Frask aus der Personalabteilung, und Unterstützung anzunehmen, z. B. von einer Nachbarin wie Harriet Sloane.

Kennt und nutzt eure Stärken, so wie Elizabeth Zott ihren allgegenwärtigen HB-Bleistift nutzt:
zur Verteidigung und für Botschaften an ihre Tochter Madeline

Nachtrag: Ich danke …

Und noch ein Nachtrag:
Die Antwort auf die Frage findet man hier.

3 Gedanken zu „Fragen zur Chemie, mit Kaffeeglück und Bleistift

  1. Marie-Lu

    Vielen Dank, Mirjam! Ich freue mich, dass du mich auf das Buch aufmerksam gemacht hast und bin sehr neugierig darauf geworden, nachdem ich die ersten Kapitel probelesen konnte. Interessant, dass du dich mit der Formel befasst hast … da frage ich mich jetzt, wie deine Erkenntnisse zu bewerten sind bzw. was sich die Autorin dabei gedacht haben könnte, eine eigentlich nicht zutreffende chemische Formel zu verwenden. Sagt es etwas über ihre Protagonistin aus oder über Bonnie Garmus Recherche?
    Ich würde das Buch kaufen -und glaube, dass es deswegen so erfolgreich ist – weil es um Furchtlosigkeit geht, wie du schreibst oder um Selbstermächtigung. Das ist auch 60 Jahre später noch aktuell.

    Antworten
  2. Mirjam Beitragsautor

    Kommentar von BF, der mich am 6.6.2022 per Mail erreicht hat:

    ***

    Gut geschrieben und gut zu lesen, gratuliere!

    Leider konnten wir das Rätsel der Formel nicht lösen, denn wir fanden nicht heraus, was die „Formel“ darstellt, sondern nur was sie nicht ist. Aber, wie Du auch schon gesagt hast, darauf kommt es letztendlich nicht an. Es ist vielmehr der Kern des Buchs zur Erwerbstätigkeit von Frauen (in der Wissenschaft) und zu ihrem Durchsetzungsvermögen in (immer noch) von Männern dominierten Berufswelten entscheidend. Wichtig ist die Position der Frau, nämlich mit Mut und Selbstvertrauen zu agieren und sich nicht abdrängen lassen.

    So gesehen, ist meiner Meinung nach das Buch kein „anrührender Familienroman“. Ein „feministischer Unterhaltungsroman“? Schon eher! Aber warum sollten sich Feminismus und Unterhaltung ausschließen. Auch ernste, für Frauen bedeutsame Themen können in unterhaltsamer Form vermittelt werden.

    Und ach ja, an der Strukturaufklärung und an der Erforschung der physiologischen Wirkung und medizinischen Verwendung von Serotonin waren auch Frauen (Arda Green; Betty Twarog) beteiligt.

    Antworten
  3. Lilo Ihringer

    Herzlichen Dank für “Serotonin”!
    Bisher vermutete ich, dass es auf jeden Fall etwas mit den Walnuss-Brownies von Seite 400/401 zu tun haben muss und auf meinem Schmierpapier finden sich die Fischer-Projektionen von Proteinen, Kakao, Polyphenolen und mehr. Denn dieses Buch hat so viele unterschiedliche Handlungsebenen, dass ich über manche – meist männliche – Kommentare in Sachen “modischer seichter Gesellschaftsroman” nur schmunzeln kann.
    Die Handlungsebene Chemiegeschichte zwickte mich im Bauch und während ich heute in der Stadtbibliothek saß und zwischen Internet und Chemielexika hin- und hersprang, erschloss sich mir ein mir unbekanntes Wissensgebiet, denn ich bin auch keine Chemikerin.
    Also:
    Der Friedhofswächter erschießt auf Seite 153 den Grabstein. Auf Seite 154 wird das Ergebnis gezeigt.
    Dort steht 1927-19. Nach Adam Riese ergibt dies 1908. Im Jahre 1908 erhielt Ernest Rutherford (lehrte übrigens u.a. in Cambridge UK und ruderte) den Nobelpreis für Chemie zu Themen rund um Radioaktivität.
    Ohne viele seine Erkenntnisse würde es heute keine Massenspektrometrie geben und Elisabeth Zott wollte ja selbst in ihrem Küchenlabor so etwas haben.
    Und schon landen wir bei der Geschichte der Stereochemie. Dieses Wort kenne ich übrigens erst seit zwei Stunden.
    Begeben wir uns also auf die Seite 156, wo die Fischerprojektion von Serotonin dargestellt wird.
    Diese Form der Darstellung von Molekülen wurde vom deutschen Chemiker und Nobelpreisträger Emil Fischer, der übrigens auch ruderte, im 19. Jahrhundert entwickelt, um in einfacher Form durch eine Art Codierung die räumliche Anordnung der Bausteine eines Moleküls skizzieren zu können. Bis dahin waren Moleküle nur platt, was sie in der Realität ja nicht sind.
    Sollte herausgefunden werden, aus welchen Bausteinen solch ein Molekül zusammengesetzt ist, musste es auf chemischen Wege zerstört und die Ergebnisse massenmäßig erfasst werden. Natürlich wusste man dann immer noch nichts über die räumliche Anordnung.
    Das ging erst mit Hilfe von Radioaktivität und physikalischen Untersuchungsmethoden, die das Molekül nicht zerstören. In den 50er/60er Jahren konnten diese Methoden labortechnisch umgesetzt werden.

    Ist diese Handlungsebene des Buches nicht herrlich, wie alte Denkungsart und Analysemethodik gegen neue streitet?
    Gestoßen bin ich darauf, nachdem ich auf Seite 15 die Abwandlung eines klassischen Mathematiker-Witzes entdeckt und daraufhin eine Analyse der Zahlen (Primzahlen, Quersummen, Kakuro-Logik etc.) und ihrer Verwendung im Handlungsstrang durchgeführt habe.
    Damit möchte ich Sie aber jetzt nicht langweilen, obwohl ich es ehrlich gesagt zum Quietschen finde.

    Zum Schluss der Mathematiker-Witz: Es gibt drei Gruppen von Mathematikern. Die einen können bis drei zählen, die anderen nicht. Viel Spaß beim Finden der Modifikation auf Seite 15!

    Verliebt in Halbsieben
    grüßt
    Lilo Ihringer

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