Die Predigt bei unserem Besuch des Gottesdienstes der deutschen Gemeinde in der Christinenkirche in Göteborg im September war wahrlich unerwartet: Sie vermittelte uns ganz neue Erkenntnisse zur Bibel, die dazu drängen, sich Gedanken zu machen über Maria genannt „Magdalena“. Was hat es mit dieser Maria auf sich – und was bedeutet ihr Beiname „Magdala“?
Eine eindeutige Antwort wird man hier nicht finden, aber Impulse dafür, weitere Forschungen zu verfolgen und an der Frage dranzubleiben: „Maria aus Magdala“ oder „Maria der Turm“? Und sich auszumalen, wie das Christentum mit einer sichtbaren Maria aussehen würde.
(un)erwartet
„(un)erwartet“, so lautet der Titel des Predigttextes von Pfarrerin Katja Engelhard zum Gottesdienst am 15. Sept. 2024 in Göteborg, der im Internet nachzulesen ist: (un)erwartet.
Als theologische Laiin gebe ich hier den spannend-bewegend-berührenden Inhalt der Predigt mit meinen Worten wieder, wobei ich versuche, mich möglichst an Engelhards Text zu halten; eigene Überlegungen sind als „Einschub“ markiert. Wer lieber direkt ans Original gehen möchte: Nur zu – am Ende des Beitrags gibt es Links auf weitere Texte, ergänzend zu den von Katja Engelhard angegebenen Quellen, insbesondere der Text von Diana Butler Bass vom Juli 2022: „Mary the Tower – What would Christianity be like if Mary Magdalene hadn’t been hidden from view?”
Ausgangspunkt der Predigt war Engelhards Lieblingsgeschichte in der Bibel: Die Begegnung von Maria mit dem auferstandenen Jesus am Grab. Diese Geschichte ist für Engelhard geheimnisvoll und zärtlich und lässt Nähe zwischen Jesus und Maria spüren – zu Maria, der Apostelin, die als erste dem Auferstandenen begegnet ist und dabei von ihm den Auftrag bekam: „Sag weiter, was du gesehen und erlebt hast.“
Einschub:
Das schwedische Osterlied „Dina händer är fulla av blommor“
Beim Hinweis auf die Szene von Maria am Grab kommt mir das schwedische Lied in den Sinn, im schwedischen Gesangbuch (Den Svenska Psamlboken, 154): „Dina händer är fulla av blommor“, ursprünglicher auf Italienisch „Le tue mani“ von Marcello Giombini, ins Schwedisch übersetzt von Lars-Åke Lundberg um 1970. Bei diesem Lied handelt es sich um ein Wechselgespräch zwischen zwei Personen: der auferstandene Jesus und eine frohe, jubelnde Maria. Zum Anhören gibt viele Versionen des Lieds im Internet, u.a.: „Dina händer …“ – Wechselgesang oder Dina händer …
J: Deine Hände sind voller Blumen. Wem wolltest du sie schenken?
M: Meine Blumen waren für Jesu Grab bestimmt. Aber er war nicht da und sein Grab ist leer – Halleluja, Halleluja, Halleluja, Halleluja
(„Dina händer är fulla av blommor“, 1. Strophe, frei übersetzt)
Viele Marien …
Um welche der vielen Marien geht es in der Ostergeschichte? Neben Jesu Mutter Maria gab es eine Maria in der Geschichte über „Maria und Martha“ im Lukasevangelium, dazu eine Maria als Schwester von Lazarus in der Geschichte im Johannesevangelium: „Auferstehung des Lazarus“. Und dann gab es noch die Maria, die „Magdalena“ genannte wurde und von der man angenommen hatte, sie stamme aus einem Ort namens Magdala. „Maria“ bzw. „Mirjam“ war ein beliebter Name zur damaligen Zeit, dabei ist „Maria“ die griechisch-lateinische Form für hebräisch/aramäisch „Mirjam“.
Einschub:
Maria – Apostelin, Sünderin, Gegenspielerin zu Petrus
(verkürzt dargestellt nach:
Christoph Brüwer: Was nicht in der Bibel steht. Feb. 2020
Agathe Lukassek: Aposolin mit verruchtem Image. Feb 2015
Heiligenporträts)
Bis heute werden bei Ausgrabungen und in Bibliotheken sogenannte apokryphe Schriften gefunden, von deren Existenz man bisher nichts wusste. Lange Zeit galten die Apokryphen als Texte, die die Schriften des biblischen Kanons nachgeahmt haben, um selbst in den Kanon aufgenommen zu werden, theologisch aber minderwertiger und inhaltsleer gewesen sein sollen, da sie nur für das einfach Volk geschrieben worden seien. Erst in den 1990er Jahren änderte sich diese Einstellung und die Theologie beschäftigte sich zunehmend mit den Apokryphen.
Für die Kirchenväter war Maria Magdalena die neue Eva und die erste Osterbotin, eine „Apostelin der Apostel“. Die Umdeutung von der Apostelin zur Sünderin begann mit den Magdalenenpredigten von Papst Gregor dem Großen (590-604), in denen die Figur der Frau aus Magdala mit der namenlosen Sünderin, die Jesus in Lukas 7 die Füße salbt, und mit Maria von Betanien, der Schwester von Martha und Lazarus, verschmelzt wird.
Eine eigene Rolle spielen antike Texte, die erst seit Ende des 19. Jahrhunderts gefunden wurden: Schriften, die im 2. und 3. Jahrhundert entstanden sind, etwa das „Evangelium von Maria“. Darin ist Maria eine wichtige Jüngerin, mit der Jesus eine tiefe geistige Beziehung hatte, die Frau, die die Osterbotschaft weitergetragen hat.
Predigttext: Lazarus, Johannes 11
Als Jesus nach Betanien kam, lag Lazarus schon vier Tage im Grab. Betanien war nahe bei Jerusalem, knapp drei Kilometer entfernt. Viele Juden waren von dort zu Martha und Maria gekommen. Sie wollten sie in ihrer Trauer um den Bruder trösten. Als Martha hörte, dass Jesus kam, ging sie ihm entgegen. Maria aber blieb zu Hause.
Martha sagte zu Jesus: »Herr, wenn du hier gewesen wärst, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, das wird er dir geben.« Jesus antwortete: »Dein Bruder wird auferstehen!« Martha erwiderte:»Ich weiß, dass er auferstehen wird – bei der Auferstehung der Toten am letzten Tag.«
Da sagte Jesus zu ihr: »Ich bin die Auferstehung und das Leben! Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und wer lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht von Gott getrennt. Glaubst du das?« Sie antwortete: »Ja, Herr, ich glaube fest: Du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll!«
Nachdem Martha das gesagt hatte, ging sie weg und rief ihre Schwester Maria. Leise sagte sie zu ihr: »Der Lehrer ist da und lässt dich rufen.« Als Maria das hörte, stand sie schnell auf und ging zu Jesus. ((..))
(Johannes 11, 28-44, gekürzt)
Theologische Entdeckung von Elizabeth Schrader: Maria, nicht Martha!
Für Katja Engelhard geht es bei diesem Text um Maria, nicht um Martha – um Maria, die für viele hunderte von Jahren im Lazarus-Text versteckt worden sei: „Hidden in plain sight“, „Da – und doch unsichtbar gemacht“. Wie kommt Schrader darauf?
Die Theologin Elizabeth („Libbie“) Schrader aus den USA wollte mehr über Maria Magdalena herausfinden und hat in der Zeit um 2015/2020 über den Lazarus-Text wissenschaftlich gearbeitet und darüber geschrieben. Als Schrader mit ihrer Arbeit anfing, waren die ältesten Handschriften zum Johannesevangelium, die aus dem 2. Jahrhundert nach Christus stammen, gerade digitalisiert worden. So konnte Schrader den Text bequem und vergrößert am Computer lesen. Dabei machte Schrader die Entdeckung:
Lazarus hatte nicht zwei Schwestern, sondern nur eine Schwester: Maria.
Es gibt – zumindest in der Lazarus- Geschichte – keine Martha! Jemand hatte im Nachhinein viele Stellen im Manuskript übermalt und dabei aus dem Namen „Maria“ manchmal den Namen „Martha“ gemacht, aus einer Schwester zwei Lazarusschwestern. Das ist ganz einfach: Man muss nur einen Buchstaben verändern, aus dem „i“ von Maria ein griechisches „theta“ („th“) machen, dann ist „Maria“ eine „Martha“.
„Maria“ mit „i“ | „Martha“ mit „th“ | „Martha“ mit überschriebenem „i“ |
Warum wurde der Name der Maria aus Bethanien überschrieben, versteckt? Vielleicht, weil es den Beginn des Textes weniger holprig macht? Vielleicht, weil es im Lukasevangelium schon das bekannte Schwesternpaar Maria und Martha gibt, und es mit zwei Schwestern mehr Sinn zu machen scheint? Allerdings wohnt dieses Schwesternpaar gar nicht in Bethanien und sie haben auch keinen Bruder namens Lazarus. Es sind völlig andere Personen: Maria und Martha bei Lukas und Maria (ohne Martha) bei Johannes!
Bedeutung von nur einer Lazarus-Schwester: Maria aus Bethanien
In den letzten Jahren haben sich viele Wissenschaftler mit dieser Maria aus Bethanien beschäftigt, und alle sind sich einig: Elizabeth Schrader hat hier etwas Sensationelles entdeckt. Aber was ist so sensationell daran, dass es nur eine Schwester ist und nicht zwei?
Katja Engelhard kommt hier an den zentralen Punkt der Szene, in der nicht Martha, sondern Maria mit Jesus spricht – ein Christusbekenntnis in der Mitte des Johannes-Evangeliums, im Zentrum des Buches. Als Antwort auf Jesu Frage antwortet hier nicht irgendeine Martha, die sonst keine weitere Rolle spielt, sondern Maria mit dem Bekenntnis:
Und Jesus sagt zu Maria: »Ich bin die Auferstehung und das Leben! Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. (…) Glaubst du das?«
»Ja, Herr, ich glaube fest: Du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll!« (…)
(Katja Engelhard, 2024: https://www.svenskakyrkan.se/tyska/unerwartet)
Engelhard sieht hier die Parallele zum Bekenntnis des Petrus im Zentrum des Markusevangeliums Nur wird das Bekenntnis hier, im Johannesevangelium, von einer Frau gesprochen, von Maria aus Bethanien. Der Jünger Simon bekommt an dieser zentralen Stelle im Markusevangelium seinen Ehrentitel verliehen: „der Fels“ bzw. griech./lat. „Petrus“ – Simon Petrus.
„Maria Magdala“: „Maria der Turm“
Das ist in Engelhards Predigt das letzte Puzzlestück in der Detektivgeschichte: Der Ehrentitel der Maria aus Bethanien ist „Magdala“.
Dabei handelt es sich jedoch nicht um einen Ortsnamen, „aus Magdala“. Denn, auch das ist inzwischen historisch und archäologisch belegt: Den Ort Magdala gab es zu der Zeit von Jesus und Maria noch gar nicht.
Was es aber gab, ist das aramäische Wort „Magdala“ für „Turm“. Und Aramäisch ist die Muttersprache von Jesus und Maria.
Damit steht nun neben Simon Petrus, „Simon der Fels“
Maria Magdala, „Maria der Turm“.
Was folgt …
- Maria Magdala ist Augenzeugin der Kreuzigung Jesu und Augenzeugin der Auferstehung Jesu.
- Maria Magdala spricht eines der wichtigsten Bekenntnisse in den Evangelien:
„Ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ - „Magdala“ ist keine Ortsangabe, sondern ein bedeutender Ehrentitel: „Maria der Turm“, vergleichbar mit „Petrus der Fels“. Beide – Simon Petrus und Maria Magdala – sind mit ihren Bekenntnissen jeweils das Zentrum eines Evangeliums.
Maria Magdalena ist wie ein Turm,
wie ein weit sichtbarer und sicherer Ort.
Engelhard beendet ihre Predigt mit der Überlegung: Wie schön wäre es gewesen, wenn wir davon schon früher erfahren hätten, im Kindergottesdienst oder aus unseren Kinderbibeln. Wenn wir dort gelesen und gehört hätten:
Maria Magdalena ist ein Vorbild. Glaube wie sie. Weiche dem Schmerz nicht aus und nicht der Liebe. Sei sichtbar! Sei groß! Hab in dir Platz für vieles …
Das hätte einen echten Unterschied gemacht. Für mich und viele andere Mädchen und Frauen. Stattdessen wurde sie kleingeredet. Übermalt. Und als Apostelin seit Jahrhunderten vor uns versteckt!
(Katja Engelhard, 2024 nach Birgit Mattausch, 2022)
Maria, Turm, Apostelin und Vorbild im Glauben.
Und ich ergänze den Blick „Wie schön wäre es gewesen …“ mit der Aufforderung „Imagine …“ von Diana Butler Bass: Imagine …
What does that church look like? What does a Christianity of Mary the Tower look like? And what in the world might that towering faith have to say to this moment of crisis in which we live?
(Diana Butler Bass, 2022)
Quellen aller Art
Einstig: Lazarus-Predigt
- Predigt in der deutschen Gemeinde / Tyska Kyrkan (Christinenkirche) in Göteborg von Pfarrerin Katja Engelhard am 15. Sept. 2024, „(un)erwartet“:
- Schwedisches Osterlied, schwedisches Gesangbuch Psalm 154:
„Dina händer är fulla av blommor“ – Wechselgesang oder Dina händer …
Forschung – Entdeckungen, Sichtweisen, Theorien
- Elizabeth Schrader aus den USA
- Elizabeth Schrader: Was Martha of Bethany Added to the Fourth Gospel in the Second Century? (Harvard Theological Review. Published online by Cambridge University Press: 08 September 2016)
- Rede von Elizabeth Schrader in Leipzig, 2023
- Maria oder Martha, 2019/2020
- Diana Butler Bass, Juli 2022: „Mary the Tower – What would Christianity be like if Mary Magdalene hadn’t been hidden from view?”
- Yonat Shimron, 2019: Scribes tried to blot her out. Now a scholar is trying to recover the real Mary Magdalene. (Episcopal News Service, Juli 2019)
- Women Erased: Mary Magdalene and the Gospel of John with Elizabeth Schrader (FutureChurch, Women Erased, Aug. 2021)
Predigten und Artikel über „Maria der Turm“
- Birgit Mattausch, 2022: „Maria der Turm – Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten ….“
- Max Melzer, August 2022: Wer war Maria Magdalena wirklich?
- Predigt von Prälat i.R. Traugott Schächtele, Sept. 2023: Maria der Turm
Hintergrund – Kirchengeschichte: Apogryphen, und „Evangelium der Maria“
- Feb. 2015: Apostelin
- Feb. 2020: Maria – Apostelin der Apostel:
- Heiligenporträt: Maria Magdalena
- Lucas Wiegelmann, in „Welt“, März 2018: „Die erste Päpstin“
- Papyrus 66 (älteste Handschrift des Johannesevangeliums)
Nachtrag: „Mirjam Migdal“ anstelle von „Maria Magdala“
In Vaters alter Ausgabe von Hollenberg-Budde: „Hebräisches Schulbuch“, finde ich den Eintrag מִגדָל, „Turm, Burg” (von גָדוֹל „gadol“, „groß“). Mit dem Wissen aus ein paar Stunden Hebräisch-Unterricht in der Schulzeit schreibe ich, von rechts nach links, mit den Konsonanten „MRJm“ bzw. „MGDL” und den Vokalen als Pünktchen und Striche: מִרְיָם „Mirjam“ und מִגדָל „migdal“, „Turm“. Anstelle von „Maria Magdala“ im obigen Text steht nun auf Hebräisch מִרְיָם מִגדָל, „Mirjam Migdal“, „Mirjam der Turm“: